Das 9€-Ticket / Deutscher Pessimismus oder konstruktive Kritik?
- Moritz Gerlach
- 12. Juni 2022
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 13. Juni 2022
“Einmal die Fahrkarten bitte!”. Diesen Satz haben bestimmt viele von euch lange nicht zu hören bekommen. Das 9€ Ticket setzt hier einen Schlussstrich und zieht viele Menschen wieder in den öffentlichen Personennahverkehr. Ich habe mir das Thema sehr intensiv angeschaut und habe mich gefreut eine Woche vor Beginn, dass 9€ Ticket online erwerben zu können.
Doch die Freude hielt sich nach meinem Empfinden eher zurück. Viele Fragen standen offen und negative Stimmen wurden lauter. Ich möchte in diesem Beitrag etwas über das Thema sprechen und anknüpfend daran Probleme unserer Gesellschaft verdeutlichen.
Eine Meinung von Moritz Gerlach
Ist die Bahn bereit für sowas? Die Züge werden überfüllt sein! Der ländliche Raum profitiert nicht davon! Die Werbung für die Bahn wird scheitern und alle werden es erleben! Völlig sinnloses Menschenexperiment!
So habe ich im Grunde gut zusammengefasst die Wochen vor dem 1.Juni erlebt. Neben sozialen Netzwerken klang diese Stimmung auch im Spiegel und in den ZDFheute Nachrichten an. Doch warum? Ist Politik wirklich immer negativ?
Schaut man sich die Vergangenheit an, dann ist schon zu sagen, dass eine derartige Idee in den vorherigen Regierungen nicht vorzufinden ist. Neben wenig Hoffnung und schleppendem Ausbau der Bahn hat die damalige Bundesregierung mehr und mehr auf das bekannte und verbreitete Automobil gesetzt (Quelle: Statista). Zudem hat sich vor allem in der letzten Legislaturperiode gezeigt, dass die große Koalition wenig, bis keine Antworten auf den demografischen Wandel und die klimatische Transformation hatte. Und nun? Verkehrsminister Wissing (FDP) steht vor einer großen Herausforderung und muss die Verkehrswende umsetzen. Das 9€-Ticket ist hier definitiv ein Anstoß für neue Möglichkeiten und einfachere Ticket-Wege. Also kann Politik auch anders.
Allein in Deutschland gibt es mehr Ticketverbände als Bundesländer und die Preise sind deutlich zu hoch. Nehmen wir mal das klassische Beispiel Düsseldorf Köln. Eine Einzelfahrt kostet ab 11€ und das auch nur weil man vom VRR (Verkehrsverband Rhein-Ruhr) in den VRS (Verkehrsverbund Rhein-Sieg) fahren muss. Hierbei muss für die Zukunft nachgebessert werden. Zudem haltet euch jetzt mal fest. Ein Abo-Ticket für Pendler kostet ab 200€ aufwärts! Ja ich konnte es auch nicht glauben, aber es ist wirklich war. Dies ist natürlich kein Anreiz auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen. Das 9€-Ticket schon eher.
Um nochmals auf die negative Stimmung und die Überschrift zu kommen, muss eines deutlich gesagt werden. Das 9€-Ticket wird keine Komplettlösung für alle Probleme sein, aber ist es nicht trotzdem eine gute Idee? Ich persönlich finde es definitiv sinnvoll zu zeigen, wie eine Zukunft im Nahverkehr aussehen kann und wie wir uns gegebenenfalls für die Zukunft anpassen müssen. Sind wir als Gesellschaft denn bereit dafür? Definitiv nicht. Wie euch die Überschrift schon suggeriert, geht es hier ebenfalls um unseren Pessimismus. Das 9€-Ticket ist definitiv ein Beweis dafür, wie negative Stimmung entstehen kann, ohne sich offen auf neue Maßnahmen einzulassen. Hierbei stehen die Medien im Fokus.
Neben Überschriften wie “Überfüllter Zug, da tobt der Bär”, “Fünf Lehren aus dem Hype ums Neun-Euro-Ticket" oder auch “Das Leben in vollen Zügen genießen”, konzentrierten sich viele Menschen direkt auf den schlechten Ausbau der Bahn, zu viele Verspätungen und mögliche überfüllte Züge. Haben wir in Deutschland also einen zu hohen Pessimismus? Können wir Politik nur noch kritisieren und nicht auch mal loben?
Klar muss man angeben, dass die Bahn in allen Bereichen verbessert werden muss und noch lange keine ausschließliche Alternative zum Auto ist. Dennoch stehen wir vor einem Umbruch, welcher einen in einer gewissen Form anfangen muss und das 9€-Ticket wird diesen Anfang darstellen können. Diesbezüglich bin ich der Meinung, dass man hier keine Katastrophe und auch kein Experiment herbeigeführt hat, sondern dem ÖPNV eine Chance gibt und diese für viele Menschen sinnvoll ist.
Nehmen wir mal drei Beispiele von mir selbst auf. In den Ferien habe ich mich dazu entschieden zwei Mal Teile meiner Familie zu besuchen. Hierfür muss ich einem nach Frankfurt und einmal nach Hannover fahren. Mein Start ist am Krefeld-Uerdingen Bahnhof. Die dritte Strecke führt mich zur Arbeit, aber dazu komme ich später. Zuerst ging es für mich nach Frankfurt. Hierzu musste ich zuerst von Uerdingen nach Duisburg, dann nach Koblenz und dann bis Frankfurt. Insgesamt habe ich für diese Strecke fünf Stunden gebraucht. Laut Navigationssystem würde ich ohne Stau mit dem Auto ca. 3 Stunden brauchen. Natürlich kann dies je nach Fahrweise variieren, da ich aber nicht so schnell fahre habe ich drei Stunden berechnet.
Beim Zug hatte ich hierbei aber etwas Glück. Durch den Einstieg in Duisburg war der Zug noch nicht so voll und ich hatte durchgehend bis Frankfurt einen Sitzplatz. Zudem waren alle Züge soweit pünktlich. Dies ist nicht zwingend die Regel, da es Personen gab, die stehen mussten und Verspätungen immer vorkommen können. Was kann man nun aus der ersten Fahrt mitnehmen. Wie beim Auto auch, gibt es Vor- und Nachteile. Neben möglichen Verspätungen oder auch einem fehlenden Sitzplatz kann es genauso gut passieren, dass man an einem Bahnsteig nicht mehr in den Zug kommt, da dieser schon zu 100% ausgelastet ist. Letzteres ist teilweise in Bonn HBF passiert. Mit dem Auto kann es gut passieren, dass mehrere Staus auftreten oder während der Fahrt etwas am Auto kaputt geht. Zudem muss man berücksichtigen, dass man selbst fährt und beim Zug am Sitzplatz zum Beispiel arbeiten oder lesen kann.
Ihr seht, dass der Vergleich für jeden individuell ist und es sich für Personen lohnen kann und für andere nicht. Preislich rechnet man beim Auto mit einer Pauschale von 30 Cent pro Kilometer. Von mir bis Frankfurt sind es ca. 260 Kilometer. Zusammengerechnet also 156€ nach Frankfurt und zurück. Das ist natürlich schon viel Geld, wenn man überlegt, dass Bus & Bahn nur 9€ kostet.
Zusammengefasst muss man sich überlegen, was für einen selbst sinnvoller ist, da beide Möglichkeiten sowohl Fluch als auch Segen sein können. Angrenzend daran ist mir zudem aufgefallen, dass die Züge zwar sehr voll waren, aber man dies durch einen zusätzlichen Wagen oder einen Wagen mit zwei Stockwerken hätte lösen können. An dieser Beobachtung sieht man, dass Probleme sehr schnell gelöst werden können.
Meine nächste Fahrt ging nach Hannover. Mit der Bahn geht es wieder ab Krefeld-Uerdingen über Duisburg und Minden nach Hannover. Vereinzelt werden auch Verbindung über Bielefeld angezeigt. Mit dem Auto fährt man ca. 300 Km und bezahlt für Hin- und Rückfahrt 180€. Mit der Bahn natürlich nur 9€. Bei meiner Fahrt nach Hannover hatte ich minimale Verspätung von 20 min, welche nicht gravierend ist, aber erwähnt werden muss. Überrascht, war ich bei der Zeit. Mit der Bahn und der Verbindung mit dem RRX (Rhein-Ruhr-Express) habe ich 3:40h gebraucht was eine gute Stunde mehr ist als mit dem Auto. Durch andere Stopps auf der Strecke nach Hannover ist die Bahn schneller und kann besser mit dem Auto mithalten. Regulär braucht man für die Strecke 3:18h.
Anhand beider Beispiele könnt ihr erkennen, wie man den Vergleich zwischen Auto und Bahn setzen sollte. Es gibt für viele Personen einen großen Anwendungsbereich für das neue 9€-Ticket und für viele nicht. Grundsätzlich solltet ihr bei der Bahn sehr flexibel sein und keine Termine haben, welche auf die Minute genau erreicht werden müssen. Trotzdem lohnt es sich definitiv für einen schnellen Wochenendtrip zur Familie oder Freunden. Zudem solltet ihr immer eine Alternativroute haben. Die App DB-Navigator hilft euch hier immense und ihr habt sogar die Möglichkeit Verbindungen in euren Kalender einzutragen. Natürlich muss jeder einzelne selbst wissen, wie er reisen möchte. Dennoch sollte man mit Hinblick auf Klimaschutz sich jede Strecke zweimal überlegen und gegebenenfalls auch mehr oder weniger bezahlen.
Als letztes möchte ich nochmal ein Alltagszenario angeben. Ich als Erzieher kann leider kein Home-Office machen, weswegen ich ebenfalls zum Kindergarten fahren muss. Mit dem Auto brauche ich 28 Minuten und mit Bus & Bahn 36 Minuten. Zeitlich kann man deutlich erkennen, dass kein großer Unterschied vorhanden ist. Mein Arbeitsweg mit dem Auto beträgt hin und zurück 25 Km. Insgesamt kostet mich eine Woche Auto fahren 37,50€ und ein Monat 150€. Wie bei allen vorherigen Werten berechne ich sowohl Verschleiß meines Autos als auch den Sprit, den ich verbrauche. Hier kann man deutlich sehen, dass sich die Verwendung des Autos für mich zur Arbeit nicht lohnt und das Bus & Bahn die bessere und günstigere Alternative ist.
Was möchte ich jetzt abschließend mit diesem Beitrag ausdrücken? Wie ihr seht, habe ich mehrere Szenarien mit dem 9€-Ticket durchgespielt. Ob dieses Ticket was für einen selbst ist oder nicht, muss jeder für sich entscheiden. Dennoch halten wir fest, dass hier eine positive Idee aus der Bundesregierung umgesetzt wurde und über 7 Millionen Menschen die Tür geöffnet hat, günstig und umweltfreundlicher von A nach B zu kommen. Wie ich angegeben habe, gab es eine derartige Umsetzung in den vergangenen 16 Jahren nicht und sie ist definitiv innovativer als autofreie Sonntage.
Als Appell sollten wir als Gemeinschaft mehr Energie daran setzen Probleme konstruktiv zu lösen und aktiv daran mitzugestalten. Als eine bessere Mentalität, den deutschen Pessimismus öfter beiseitelegen und Politik für gute Ideen loben. Das 9€-Ticket kann nicht Wäsche waschen, nicht putzen oder bügeln, nicht soziale Probleme lösen oder auch nicht gute Noten in der Schule herbeizaubern. Dennoch macht es den Verkehr fortschriftlicher und bildet uns Menschen weiter.
Vielen Dank, dass ihr diesen Beitrag gelesen habt. Was denkt ihr über das Thema? Schreibt uns gerne eine Mail oder eine private Nachricht auf Instagram. Wir freuen uns auf eure Antwort.
Viele Grüße
Moritz
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